Eine eher unfreiwillige Bestandsaufnahme

Anfang Juli irgendwo zwischen Nord- und Süddeutschland an der A7:

Mein Mann und ich sitzen in einem schönen kleinen Café am Rande einer kleinen Stadt, um die lange Autofahrt mit einer süßen Pause aufzuwerten. Der Raum ist gut übersehbar und nur ein weiterer Tisch neben uns ist besetzt. Gute Voraussetzungen also, der der Unterhaltung am Nebentisch besser folgen können, als uns lieb ist…

Die 3 Frauen trifft sich seit langer Zeit mal wieder in dieser Runde an diesem Ort. So bleibt es nicht aus, dass sie sich auch darüber austauschen, wie sie die vergangenen Wochen der Corona-Distanz-Regeln erlebt haben…

„Das ist seit langem mein erster Cafebesuch. Seit Corona vermeide ich es, raus zu gehen, weil ich es hasse, immer und überall eine Maske aufzusetzen. Da bleib ich doch lieber gleich zu Hause….“ 

„Ich habe mich – seit die Restaurants und Cafes wieder auf sind – mit vielen Bekannten und Freunden getroffen. Aber immer mit Maske und Abstand …“

(…)

Ja, so hat jedeR eigene Wege und Strategien, mit den geltenden Vorschriften umzugehen….
Diese Zeit bietet wunderbares Anschauungsmaterial, wie Menschen darauf reagieren, wenn sie in neuen Rahmenbedingungen agieren müssen. Insbesondere solchen, die von Autoritäten auferlegt werden, sprich:  andere über ihren Kopf hinweg entscheiden.

Was sind denn typische Reaktionen auf die Corona-Regeln, die zu beobachten sind?
Hier eine Auswahl aus meinem persönlichen Umfeld.

Umsetzungs-Varianten

  • Konsequentes Einhalten der Regeln – besonders bei Menschen, die Risikogruppen angehören oder viel mit diesen zu tun haben.
    Auch die leicht zu verunsichernden und eher ängstlichen Charaktere scheinen mir sehr konsequent zu sein..
  • Individuelle „Umgehungstaktik“: Situationen vermeiden, in denen ich die Regel befolgen muss…(wie schon in obigem Beispiel). Im Zweifel wird ein “Übel” gegen ein anderes ausgetauscht, das individuell weniger belastet (keine Café- und Restaurantbesuche versus Maske).
  • Regeln (bzw. die zugehörige Schutzausstattung) vergessen („oh, sorry, jetzt hab ich tatsächlich vergessen, den Mundschutz mitzunehmen…”) Das kann immer passieren, solange das erwünschte Verhalten noch nicht zur Routine geworden ist und quasi-automatisch abläuft.
  • Regeln „ausnahmsweise“ ignorieren, weil die individuelle Risikoanalyse Entwarnung gibt (z.B. „Einbahnstraßen“ zur Einhaltung des Abstandes ignorieren, weil keine weiteren Personen in Sichtweite sind).
  • Regeln „alternativ“ oder lässig interpretieren: Mundschutz am späten Abend unterhalb der Nase tragen (in einem unserer Lieblingsrestaurants – allerdings draußen). Auch hier könnte eine individuelle Risikoanalyse vorgeschaltet sein…
  • Regeln vollständig ignorieren:
    bislang selten beobachtet – z.B. in einer Gruppe gleichgesinnter Jugendlicher (während des „Versammlungsverbotes“ außerhalb der Familie: 8 junge Männer treffen sich am Fluss auf der Wiese – hocken eng zusammen und erzählen vorbeigehenden Spaziergängern, dass sie “alle zu einer Familie gehören”). Hier lassen sich viele Vermutungen anstellen:
    – von Un-Informiertheit (Konsequenzen…) oder
    – bislang wenig Erfahrungen mit Krankheiten und körperlichen Einschränkungen bis hin zu
    – Gruppendruck (dazugehören) und/oder
    – Stärke oder Mut/Angstfreiheit demonstrieren wollen.

Kommt Ihnen das bekannt vor?

Mir schon! Seit vielen Jahren begleite ich Unternehmen dabei, neue Anforderungen einzuführen und beobachte, was dann daraus wird. Umweltschutz, Arbeitssicherheit oder Qualität generieren gut und gern  – auch gesetzlich inspirierte – Regeln, die Risiken senken, Schutz und Sicherheit für Mensch, Umwelt und Kunden erhöhen. Trotzdem fallen sie (die Regeln! ;-)) nicht immer auf fruchtbareren Boden …

Gerade die Fachexperten und Stabskräfte der o.g. Themen wissen sicher, was ich meine: Die Reaktionen, Begründungen und Rechtfertigungen sind auch hier vielfältig. Trotzdem wird schnell die „Abweichung“ von der Regel beklagt, ein Fehler* attestiert und auf konsequente Einhaltung eingeschworen… Regeln sind heilig – alles andere ist mehr oder weniger “kriminell”….

Was uns die individuelle Anwendung der Corona-Regeln deutlich machen kann

Es gibt immer eine Vierzahl an Varianten, wie Regeln verstanden, interpretiert und angewendet werden. Für jede der o.g. Spielarten kann ich Verständnis entwickeln. Jede und jeder hat gute persönliche Gründe, die Regeln nicht 1 zu 1 umzusetzen, weil andere Menschen oder besondere Rahmenbedingungen (z.B. draussen) im Spiel sind. Böswillige oder fahrlässige Missachtung ist selten.

Vielleicht ist es das, was wir aus Corona (auch) lernen oder uns wieder in Erinnerung rufen dürfen:

Menschen denken mit – die wenigsten befolgen Regeln blind! Es lohnt sich immer, dies ernst zu nehmen und nachzufragen, wie es zu der individuellen Auslegung gekommen ist.

Irgendeine (aus persönlicher Sicht) positive Absicht wird sich mit Sicherheit finden! Die ist ggf. mit ihrer Sicht der Dinge nicht vereinbar. Sie könnte allerdings dabei helfen, Regeln und Rahmenbedingungen zu verbessern.

Manche Kontexte machen es einem richtig schwer, das “Richtige” zu tun….

Ein schöner Nebeneffekt: mehr gegenseitiges Verständnis (als Fachkraft erliege ich nicht selten einem gewissen “Tunnelblick”…)   und damit auch eine entspanntere Zusammenarbeit…

Links und Verweise

Was ist ein “Fehler”? (Auszug aus Kap. 9: Mit Fehlern umgehen):

In der Normenwelt sind Fehler das „Nichterfüllen einer Anforderung“, wobei Anforderungauch die „übliche oder allgemeine Praxis“ sein kann, die sich in einer Erwartung ausdrückt (ISO 9000:2015, 3.6.9, 3.6.4; ISO 14001:2015, 3.24). Allerdings wird hier vorgezogen, diesen Zustand als Nichtkonformität (Bild 9.1) zu bezeichnen (Vorwort ISO 9001). Konformität ist also gegeben, wenn Anforderungen und Verpflichtungen eingehalten werden, die intern und extern (Gesetzgeber, Kunden) als Soll vorgegeben werden (ISO 9001:2015, 3.1.8).

Mehr Details und Hintergrundwissen auch zum “Risikofaktor Mensch” finden sich im Kap. 8: “Denken und Handeln im Unternehmen verstehen”. Schauen Sie doch mal rein 😉

(Link zum pdf-Auszug mit Inhaltsverzeichnis auf der Seite des Verlages)

Bilder-Nachweis

alle Bilder (bis auf das Buch-Cover) von Pixabay.